Revue Interview 27. November 2019
Auf dem Weg zum Apartheid-Staat ?
Serge Kollwelter wirft einen kritischen Blick zurück auf mehrere
Jahrzehnte Immigrations- und Integrationspolitik. Und der Mitbegründer und
frühere Präsident der Association des soutien aux travailleurs immigrés (ASTI),
die dieses Jahr 40 Jahre alt wurde, blickt skeptisch in die Zukunft.
Aus einer vor einem Jahr veröffentlichten
Studie der Europäischen Agentur für Grundrechte geht hervor, dass Luxemburg ein
Rassismus-Problem hat. Hat Dich das überrascht?
Die Studie zeigt, wie die Betroffenen das erleben. Den
Nicht-Betroffenen, sofern sie nicht selbst rassistische Äußerungen von sich
geben, entgeht das. Allerdings müsste Ministerin Corinne Cahen es mitbekommen,
wenn sich jemand klagend an das Zentrum für Gleichbehandlung (CET) wendet. Der
Rassismus ist größtenteils unterschwellig und sicherlich nicht nur eine Frage
der Hautfarbe. Die Diskriminierung findet auf verschiedenen Ebenen statt. Zum
Beispiel bei der Wohnungssuche.
Wie war die Situation vor 40 Jahren, als die
Asti gegründet wurde?
Damals gab es etwas mehr als 300.000 Einwohner in Luxemburg. Deren Zahl
hat sich verdoppelt. Derweil ist der Anteil von Nicht-Luxemburgern ist von
einem Viertel der Gesamtbevölkerung auf rund die Hälfte gewachsen. Ich sehe
zwei Felder, auf denen Herausforderungen bestanden und noch bestehen, und die
noch nicht richtig behandelt wurden.
Welche sind das?
Das eine ist das Wohnen: Einerseits gibt es einen großen Bevölkerungszuwachs,
wobei die Grenzgänger noch nicht miteinbezogen sind, und andererseits einen
Wohnungsmarkt, auf dem so getan wird, als hätte sich nichts geändert. Das ist
ein Bereich, unter dem keine Integration, sondern eher eine Segregation
stattfindet – entweder die Menschen ziehen ins Grenzgebiet, oder sie verwenden
einen immer weiter steigenden Anteil ihres Einkommens für das Wohnen.
Und das zweite Feld?
Das zweite, dem auch nicht Rechnung getragen wird, ist die Schule.
Zurzeit gilt die Devise von möglichst vielen unterschiedlichen Angeboten. Diversität
klingt gut. Nur wenn es so viele Schulangebote gibt, wo bleibt da die Schule
als Schmelztiegel, wo sich die einzelnen Teile der Gesellschaft zusammen finden?
Wir haben eine sehr stramme Trennung nach dem sechsten Schuljahr, die
verhindert, dass die Jugendlichen in einer wichtigen Lebensphase zusammen leben.
Jedenfalls nicht in der Schule. So
werden auch soziale Milieus voneinander getrennt. Es ist zwar gut, dass
es differenzierte Angebote gibt. Nur warum bestehen diese nicht innerhalb einer
Schule – mit verschiedenen Sprachangeboten und gemeinsamen Aktivitäten? Es gibt
schließlich Fächer, in denen die Sprache nicht das allein Ausschlaggebende ist.
Dass wir nicht mehr am Pisa-Test teilnehmen, ist ungefähr so: Wenn du Fieber
hast, dann mach das Thermometer kaputt, damit du nicht mehr die Temperatur
messen musst. Zwar ist die Pisa-Studie keine Bibel, aber sie zeigt eine Tendenz
und ist ein Spiegel der Realität. Wir kommen immer schlecht weg, unter anderm weil
wir zu früh eine Trennung haben. Alle Länder, die besser abschneiden, trennen
später zwischen Primär- und Sekundarschule. Jetzt wird immer von Diversität
gesprochen, dabei werden auf diese Weise die sozialen Unterschiede versteckt. Kinder
von Akademikern und Kinder von Maurer und Putzfrauen mögen den gleichen Pass
haben, um in der Schule weiterzukommen brauchen sie unterschiedliche Hilfestellungen.
Hat man diese gesellschaftliche Entwicklung
bereits 1974 absehen können, als das Schwarzbuch zur Migration herauskam?
Wir hatten zu jener Zeit eine Gruppe namens „Forum 80.000“. Nur so viele
Ausländer waren es damals. Damals trug die sogenannte Familienzusammenführung
ihre Früchte. Als ich in die Primärschule ging, war von 24 Schülern einer ein Ausländer.
Heute wären hier in Weimerskirch von 14 Schülern vielleicht noch zwei
Luxemburger. Bis heute hat sich die Schule sehr schwer getan, etwas zu
verändern. Zwar gibt es immer mehr Kinder von Immigranten, die gute Leistungen
bringen und es zu etwas bringen. Es hilft aber nicht zu sagen: Für die erste
Generation tut es uns leid, aber die zweite oder dritte findet schon ihren Weg.
Wir haben jedes Jahr 20.000 Zuwanderer, das ist ein Saldo von 12.000. Die
Herausforderung, neue Mitbürger einzugliedern, bleibt bestehen, auch in der
Schule.
Es gibt ja den Plan national d´intégration?
Das ist eine Maschine, um Geld zu verteilen. Für mich sind die
wesentlichen Punkte: Wohnen und Schule. Da hilft auch kein nationaler
Integrationsplan mit zusätzlichen Luxemburgisch-Kursen oder einem Contrat
d‘accueil. Das ist zwar alles ok. Aber wenn auf den zwei Feldern, die ich nannte,
nichts geschieht und man sagt, das würde mit der Zeit gelingen, dann… Nein, das
wird nicht klappen.
Wie soll das erst funktionieren, wenn
Luxemburg 1,2 Million Einwohner haben wird?
Ich kann dazu keine Prognosen aufstellen. Ein Rückblick: Als Jean-Claude
Juncker vor etwa 15 Jahren vom 700.000-Einwohnerstaat sprach…
… den haben wir bald erreicht…
Wir sind schon längst darüber hinweg, wenn wir nämlich die 200.000
Grenzgänger hinzurechnen und dann auch noch mal ganz bescheiden mit drei
multiplizieren. Dann sind wir schon bei 1,2 Millionen Menschen, die nicht
unbedingt in, aber von Luxemburg leben. Es ist bezeichnend, wie wir immer
versuchen, diese Grenzgänger kleinzuhalten. Stichwort Studentenbörsen: Der
Europäische Gerichtshof hat uns deswegen verurteilt. Wir, also unsere
Verantwortlichen, müssen uns erst mal etwas von einem Gericht vorschreiben
lassen, statt dass wir es proaktiv angehen.
Zurück zum 1,2-Millionen-Einwohner-Staat.
Das setzt voraus, dass das Wachstum so bleibt wie bis jetzt. Diese
Hypothese macht jede Frage nach der Zukunft der Pensionen überflüssig. Solange
die Zahl der Erwerbstätigen wächst, können die nächsten Rentner von der
wachsenden Zahl der Aktiven ihre Rente beziehen. Obwohl es nicht sicher ist, ob
das weiterhin so funktioniert. Die Attraktivität des Standorts hat auch damit
zu tun, wie schwierig es ist, eine Wohnung zu finden. Es kommen nicht nur die
reichen „happy few“.
Ein Sprung zurück in die 70er. Vor der Asti
entstand die Uniao, an deren Entstehen Sie beteiligt waren, und die sich an portugiesische
„Gastarbeiter“ richtete.
Ganz genau. Hier in Weimerskirch entstand ein Lokal. Ich war
damals bei den Pfadfindern in Weimerskirch aktiv. Wir stellten fest, dass Leute
hinzukamen. Außerdem trafen sich Jugendliche aus der Stadt, um in abwechselnden
Pfarreien eine katholische Messe zu feiern. Daraus ist auch die Zeitschrift
„Forum“ entstanden. Das wurde sehr schnell politisch. Ein weiteres Element, das
zur Gründung der Uniao beitrug, war die Tatsache, dass ich eine Classe
d´auccueil hatte und mehrere Jahre für das Schulamt als „instituteur à tâche
sociale“ arbeitete. Das heißt, ich war für den Kontakt zwischen Schule und
Eltern zuständig. Weil ich Portugiesisch sprechen konnte, wurde ich dazu
berufen. Es war eine für mich wichtige Phase, die mich sehr geprägt hat. Wenn
ein Schüler mehrere Tage nicht im Unterricht erschien, weil er schwänzte, ging
ich so schnell wie möglich abends bei
dem nach Hause. Ich bekam also einen Einblick in die sozialen Realitäten, den
ich als Lehrer nicht so leicht bekommen hätte. Ich traf so auf sehr schlechte
Wohnbedingungen. Im Grund zum Beispiel waren über dem Café des Artistes in
einem Zimmer von 12 Quadratmetern zwei Doppelbetten schichtweise besetzt. Einmal
hatten wir mit Jean Back einen Film unter dem Titel „Spiel mir das Lied von der
Wohnungsnot“ gedreht, eine Anspielung auf den Sergio-Leone-Film. Fragt sich,
wie ein solcher Film heute aussehen würde.
Heute gibt es noch die Café-Zimmer.
Auch mit Leuten, die unter schwierigen Bedingungen leben. Damals ging es
uns darum, diesen Leuten und ihren Kindern die Beteiligung an kulturellen oder
sportlichen Aktivitäten zu ermöglichen. Nach Abschaffung der Foyers für
alleinstehende Gastarbeiter bleibt nur die Alternative der Café-Zimmer.
Was war die Zielsetzung bei der Gründung der
Asti im Jahr 1979?
Wir wussten, dass es auch Immigranten aus anderen Ländern gab, und haben
unser Spektrum über die Portugiesen hinaus ausgedehnt. Die Initiative ging von
Luxemburgern aus. Als Gegengewicht zur etwas paternalistischen
Herangehensweise, dass Luxemburger etwas für Nicht-Luxemburger schufen,
forderten wir von Anfang an die politische Mitbestimmung von
Nicht-Luxemburgern. Dies schrieben wir auch beim ersten Festival des Migrations
unter dem Motto „Vivre, travailler et décider ensemble“ auf unsere Fahnen. Dann
versuchten wir auf einzelnen Feldern wie der Kinderbetreuung die Eltern
miteinzubinden und leisteten Hausaufgabenhilfe.
Ihr habt euer Spektrum zunehmend erweitert.
Nur hatten wir anfangs kaum Mittel. Dann gelang es uns mit der Zeit,
Leute einzustellen, die wir bezahlen konnten. Unsere Projekte wurden dann oft
über europäische Gelder finanziert. Wir versuchten, die einzelnen Problemfelder
politisch zu thematisieren, um aus der Ecke des reinen Flickens und
Reparierens, in denen man den Menschen konkret hilft, herauszukommen. Zum
Beispiel die Frage der Sans Papiers. Oder was das Projekt Go4Lunch betrifft,
als Afrikaner immer mit Drogendealern gleichgesetzt wurden und wir versuchten,
ein anderes Bild zu verschaffen, indem wir einen Cateringservice mit
afrikanischen Asylbewerbern schufen, die ihre Kunden per Fahrrad belieferten.
Die ersten Kunden waren der Arbeitsminister und der Ombudsman. Damit versuchten
wir, ihnen bei der Regularisierung weiterzuhelfen und einen Zugang zur Arbeit
zu verschaffen. Die Frage der Asylbewerber kam bei uns mit den Balkan-Kriegen
auf den Schirm. Wir hatten bis Luxemburg hatte bis dahin nicht einmal
ein Asylgesetz. Marc Fischbach war damals Justizminister. Wenn ein Asylbewerber
eine Arbeit gefunden hatte, wurde er regularisiert. Aus der Flüchtlingsfrage
heraus stellte sich dann auch die Frage der Sans Papiers.
Wie reagierten die jeweiligen Regierungen?
Wir wurden kaum als bedrohlich betrachtet. Die sozialliberale Regierung (1974-1979)
stellte fest, dass sie keinen Ansprechpartner in diesem Bereich hatte. So wurde
die „Conférence nationale de l´immigration“ und daraufhin der Ausländerbeirat
gegründet. Aber dieser hat bis heute weder Mittel noch Einfluss. Am Anfang hatte ASTI kaum Mittel und konnten
gerade ein, zwei Leute einstellen und sie bezahlen. Die Reaktionen der
Regierungen hingen von den jeweiligen Ministern ab. Ein fortwährendes Problem
bis heute ist, dass der für die Immigration zuständige Minister gewöhnlich ein
anderes Ministerium hat, das gewichtiger ist. Früher war es das
Justizministerium, heute das Außenministerium. Somit hat der Minister nicht nur
weniger Zeit für diesen Bereich, sondern ist nicht immer präsent in seinem
Ministerium. Fischbach jedoch reagierte zurzeit der Balkan-Kriege schnell,
übrigens auch als Erziehungsminister indem er ein Maßnahmenpaket auf den Weg
brachte. Probleme wurden erkannt. Zuvor herrschte eher Stillstand. Nach Fischbach
war Luc Frieden als Justizminister für die Immigration zuständig. Ich verstehe
ja, dass man die jeweilige Rolle respektieren muss. Der Minister als
Entscheidungsträger hat sich an Gesetze zu halten. Doch ist der Buchstabe des
Gesetzes nicht alles, ihn im Namen der
Menschlichkeit zu überwinden ist kein Verbrechen! Ich weiß auch, dass nicht
alle unserer Forderungen gleich zu erfüllen sind. Aber man muss doch zumindest
das Gefühl haben, dass einem zugehört wird. Aber wenn man spürt, dass nur gemauert wird…
Wurde unter Frieden gemauert?
Ja, ganz klar. Mit Jean Asselborn wurde das ganz anders. Was ihn nicht
unbedingt bei seinen Beamten beliebter machte. Die Verwaltung
(Immigrationsbehörde, Anm. d. Red.) hatte unter Frieden ihre eigenen Kriterien
entwickelt. Sie hatte sich verselbständigt, ganz im Geiste ihres Ministers. Die Leute dort
wurden von Frieden geprägt. Dessen Nachfolger als Verantwortlicher für
Immigration, Nicolas Schmit, musste sich ab 2004 erst der
EU-Ratspräsidentschaft 2005 widmen und hatte keine Zeit. In der Immigration blieb
das Meiste beim Alten.
Zur politischen Partizipation der Migranten:
Hier gab es kontinuierlich Fortschritte. Bis zum Referendum 2015, als das
Ausländerwahlrecht bei Nationalwahlen abgelehnt wurde.
Im November 2014 gab es bereits ein Referendum auf kommunaler Ebene über
die Gemeindefusion von Larochette, Heffingen und Nommern. In Larochette waren
zwei Drittel der Bevölkerung für eine Fusion, in den beiden anderen Gemeinden
war die grosse Mehrheit dagegen. Das war eine Warnung die nicht beachtet wurde.
Das nationale Referendum vergleiche ich mit folgendem Bild: Es ist wie bei
einem Ein Neugeborenes, wird in die Welt gesetzt. Es braucht sofort Hege und
Pflege. Genau das fand nicht statt. Es wurde etwas in die Welt gesetzt, nicht nur
nicht gepflegt, nein die Eltern verschwanden von der Bildfläche. Es wurde keine Überzeugungsarbeit geleistet.
Die Parteien, die für ein Ausländerwahlrecht waren, bezogen ihre Mitglieder
überhaupt nicht in die Kampagne mit ein. Gleiches galt für die Gewerkschaften.
Selbst die Asti verweigerte sich dem wie alle anderen. Es hätte stärker
mobilisiert werden müssen und dann ein Referendum gestartet werden. Schließlich
ging es um etwas, das den Alleinvertretungsanspruch der Luxemburger in Frage
stellte. Stattdessen wurde es der ADR und Fred Keup überlassen und die CSV nutzte
die Gelegenheit Gambia eins auszuwischen. Demokratieerweiterung wurde
vermasselt.
Das Thema ist für längere Zeit vom Tisch.
Es ist vom Radar verschwunden. Aber die Frage bleibt. Die CSV scheint übrigens zu zukunftsträchtigeren
Positionen punkto Einwohnerwahlrecht gelangt zu sein. Wenn wir zu den jetzigen
Bedingungen die Ein-Millionen-Grenze erreichen haben, ist der
Apartheid-Staat perfekt. Auf die Dauer ist die Situation nicht tragbar.
Die Rechtspopulisten verstehen es, Stimmung
gegen Immigranten zu machen.
Zum Glück sind wir noch größtenteils von den Rechtspopulisten verschont
geblieben. Gast Gibéryens ADR geht noch, aber wenn Fernand Kartheiser und Fred Keup
einmal das Ruder ganz übernommen haben, wird es eine andere Dimension bekommen,
fürchte ich. Fast jeder weiß, dass in diesem Land nichts ohne Ausländer läuft.
Nur jeder dritte Aktive ist ein Luxemburger. Die anderen sind die ausländischen
Einwohner und die Grenzgänger. Das wissen die Luxemburger. Wir kommen mittelfristig
nicht am Ausländerwahlrecht vorbei.
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