Tageblatt - interview 27. Dezember 2019
Geplant
hat er es so nicht. „Gute Zufälle“ seien es gewesen, sagt Serge Kollwelter (73),
die ihn dahin gebracht haben, wo er ist. Vor 40 Jahren gründet der
Grundschullehrer mit andern die „Association de Soutien aux Travailleurs
Immigrés“ (ASTI). Die ersten 30 Jahre leitet er den Sozialverein als Präsident.
Ein Gespräch über Integration und verpasste Chancen.
Was
verstehen Sie unter Integration?
Ein
gutes, ausgewogenes und demokratisches Zusammenleben.
Seit
40 Jahren kämpft ASTI für eine offene Gesellschaft in Luxemburg. Wagen Sie eine
Bilanz?
Als
ich mich zum ersten Mal mit dem Zusammenleben hier im Land befasst habe, gab es
330.000 Einwohner und 60.000 Ausländer. Das zeigt die Dynamik, die immer noch andauert. Jährlich
kommen 20.000 Ausländer hinzu. Es gibt noch viel zu tun.
Wo
sehen Sie Handlungsbedarf?
Es
gibt zwei Felder und das ist keine Überraschung: Schule und Wohnungsmarkt. Beides
ist ein fortgeschriebener Skandal in einem Land mit solchen
Bevölkerungszuwächsen. Und zwar von der gesamten politischen Klasse. Ich
glaube, es ist den jeweiligen Regierenden einfach egal, denn von „verschlafen“
kann nicht die Rede sein.
Die
ASTI agiert unter dem Motto „vivre, travailler et decider ensemble“. Das hat
einen Haken. Ausländer dürfen nicht mitentscheiden...
Das
ist ja auch eine Zielvorstellung. Ich halte es da mit der Bostoner „Tea Party“:
„No taxation without representation“. Es ist einfach ungesund, wenn hier in der
Stadt Luxemburg zwei Drittel der Einwohner kein Mitsprachrecht haben.
Das
ist eine de facto Ausgrenzung...
Ja. Mir
machen aber die mittel- und langfristigen Konsequenzen mehr Sorgen. Wir
brauchen diese Kinder und ihre Kompetenzen für unsere Gesellschaft. Und wir
dürfen das nicht der Zeit überlassen. Erste Generation, zweite Generation...,
es gibt dauernd neue erste Generationen.
Bremst
nicht die Kultur des „jeder kennt einen, der einen kennt“?
Solange
sich die politischen Parteien nicht öffnen und Menschen mit
Migrationshintergrund hereinlassen, wird nichts passieren. In Luxemburg bremst zusätzlich
häufig die Sprache.
Es
gibt eine Ausnahme, den Finanzsektor. Auf dem Kirchberg spielt die
luxemburgische Nationalität und Sprache keine Rolle, obwohl es eine
Schlüsselindustrie ist...
Das
ist eine eigene Welt, die unter sich bleibt. Eine Parallelgesellschaft mit
eigenen Schulen. Ein Banker, der hier fünf Jahre bleibt, muss nicht unbedingt
luxemburgisch lernen. Bedenklich finde ich aber, dass die Kinder der
EU-Mitarbeiter nicht einmal ein Angebot bekommen, luxemburgisch zu lernen.
Das
sind überwiegend gut ausgebildete Europäer. Es gibt ja aber auch andere
Immigranten...
Pisa
hat es doch gerade gezeigt: Wir sind das Land, das sich am wenigsten in der
Schule einfallen lässt, um soziale Unterschiede auszugleichen.
Verpasste
Chancen?
Es
wird die Gelegenheit verpasst, dass die Kinder von Einheimischen und Ausländern
sich finden können. Und es geht weiter mit den Sprachen. Wie soll eine
portugiesische Mutter Hausaufgaben auf Deutsch betreuen, wenn sie die Sprache
nicht kann? Ganz davon abgesehen, dass junge Portugiesen heute Englisch
bevorzugen. Wir tuen uns mit dieser rigiden Sprachenpolitik in der Schule
keinen Gefallen.
Warum
ändert sich nichts?
Jetzt
mache ich mich bei meinen ehemaligen Kollegen unbeliebt. Warum sollen die
hiesigen Lehrer etwas am Schulsystem ändern? Ihnen geht es doch gut dabei.
Der
letzten ASTI-Umfrage entnehme ich, dass Ausländer, wenn sie die luxemburgische
Staatsangehörigkeit annehmen, mitbestimmen dürfen. Mitsprache also nur über
Nationalität?
Das
ist das Konzept des 20. Jahrhunderts. Wir leben aber im 21.
Ist
das nicht in einem vielsprachigen Land ziemlich konservativ?
„Conservare“
heißt bewahren und wir sind ja nicht ganz arm. Also haben wir viel zu bewahren.
Das gilt auch für Dinge, die uns schon längst entglitten sind. Die Gesellschaft
der Luxemburger unter sich gibt es schon lange nicht mehr.
Warum
ist das Referendum dann so ausgefallen, wie es ist?
Die
Art und Weise, wie das angegangen wurde, ist verantwortungslos. Als das Baby
geboren war, sind die Eltern weggezogen und haben das Neugeborene sich selbst
überlassen. So ein Referendum muss man doch vorbereiten. Wo waren denn die
Herrschaften?
Kritik
an der regierenden Koalition?
Wir sind
voll auf der liberalen Individualisierungswelle. Jeder für sich. In den
Vierteln kennen die allermeisten ihre Nachbarn nicht mehr. Kirchberg ist ein
gutes Beispiel. Auf dem Dorf ist es dasselbe. Es genügt nicht zu sagen, „komm
in die Feuerwehr“. Da geht die Ausgrenzung weiter. Der Kommandant gibt die
Befehle nicht in drei Sprachen. Auf Gemeindeebene ist Luxemburgisch die letzte
Hürde zur Integration.
Außer
in der IT-Branche. Dort wird Englisch gesprochen...
Ja
klar. Wenn es keinen anderen gibt, nehmen wir einen Engländer oder Amerikaner,
damit der Laden läuft. Da sind wir ganz pragmatisch.
Aktuell
fordert die ASTI eine Novellierung des Integrationsgesetzes von 2008. Warum?
Seitdem
hat sich viel verändert. Die Integrationskommission in vielen Gemeinden ist ein
Papiertiger. Der „conge linguistique“ ist unzureichend. 110 Stunden reichen
nicht, um Luxemburgisch zu lernen. Es gibt noch andere Beispiele.
Kommen
wir zu den Grenzgängern. Gehen sie unter?
Wir
dürfen sie nicht vergessen. Sie lassen Spuren hier im Land. Von „oben“ werden
dauernd Signale ausgesendet, „wir müssen sie kurz halten“. Die Beihilfen zum
Studieren sind ein gutes Beispiel. Oder der Steuerausgleich, wie ihn der
Bürgermeister von Metz will. Dem verweigert sich die Regierung rigoros. Dann
sprechen wir nicht von der Großregion sondern von einem Reservat.
Was würden
Sie ändern?
Wenn
wir uns trauen, das Wort „Großregion“ in den Mund zu nehmen, dann müsste jedes
luxemburgische Lyzeum Partner in der Großregion haben. Und nicht, damit sich
die Direktoren treffen, sondern die Schüler. Sich kennenzulernen ist die
Voraussetzung, damit man sich schätzen lernt.
Und
die Sprache anwendet...
Genau.
Ich habe mal geschätzt, dass jeder luxemburgische Schüler bis zum Abitur rund
1.500 Stunden Deutsch und noch mal so viel in Französisch gehabt hat. Sprachlich
sind sie jedoch alle bloss auf dem Stand von Schuldeutsch oder Schulfranzösisch,
auf der Höhe punkto jeweilige Litteratur jedoch viel weniger sprachfähig.
Hat
Luxemburg überhaupt ein Interesse an der Großregion?
Die
menschliche Ebene kommt meiner Meinung nach zu kurz. Das wurde schon bei der
Kulturhauptstadt 2007 falsch gemacht. Alle Projekte hätten einen luxemburgischen
und einen aus der Großregion haben müssen als Voraussetzung zur Finanzierung.
Stattdessen haben viele „ihre“ Projekte
gemacht. Und fertig. Da ist eine Gelegenheit verpasst worden.
Zum
Schluss: Wie sieht Luxemburg in zehn Jahren aus?
Ich
glaube, wenn es uns wirtschaftlich schlechter gehen sollte, zeigt sich, wie es
um den Zusammenhalt in der Gesellschaft bestellt ist. Die luxemburgischen
Wähler wissen, dass ohne Ausländer in diesem Land nichts läuft. Das weiß sogar
der ADR. Auf das jetzige lautlose und ruhige Nebeneinander haben wir kein
Ewigkeitszertifikat.
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